Bianca van der Heyden ist Polizeiseelsorgerin. Sie führt Gespräche mit Menschen, die Schlimmes erlebt haben. Sie hört zu, wenn Polizistinnen und Polizisten über ihre Probleme sprechen, ihre Ängste und ihren Schmerz. 2010 war sie bei der Loveparade und 2015 nach dem Absturz des Germanwings-Flugzeugs im Einsatz. Nach 13 Jahren hat van der Heyden nun die Polizeiseelsorge verlassen: Seit Dezember ist die 47-jährige Theologin die neue Landespfarrerin für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland. Zeit für ein persönliches Resümee. Im Interview spricht sie über die Leidenschaft für ihren Beruf, die schönen Momente, aber auch die schwierigen Einsätze.
Streife: Warum sind Sie überhaupt Polizeiseelsorgerin geworden?
Bianca van der Heyden: Ich wurde 2005 von einer Ausbilderin für Notfallseelsorge gefragt. Von selbst wäre ich nie auf die Idee gekommen. Ich habe weder Polizisten in meiner Familie noch hatte ich zuvor mit ihnen zu tun. Ich war verwundert, warum Polizisten eine eigene Polizeiseelsorge brauchen. „Können Polizisten denn nicht zu »normalen« Seelsorgern gehen?“, war mein erster Gedanke. Während eines Praktikums habe ich dann festgestellt, welche riesige Herausforderung dieses Arbeitsfeld ist. Ich habe verstanden, warum Polizisten eigene Seelsorger brauchen. Man muss sich unheimlich gut auskennen. Man muss ihre Sprache sprechen. Man muss genau schauen, was die Polizisten erleben und man muss das System verstehen. Es kann schon ein paar Jahre dauern, bis man als Pfarrerin bei der Polizei Fuß fasst. Vertrauen zu gewinnen, ist etwas sehr Wertvolles, besonders bei der Polizei. Nach dem Praktikum stand für mich fest, dass ich diese Aufgabe übernehmen möchte. Dass daraus insgesamt 13 Jahre und eine so große Liebe werden würden, hätte ich damals nicht gedacht.
Streife: Was gehört denn alles zu diesem spannenden Arbeitsfeld?
van der Heyden: Die Seelsorge bei beruflichen oder privaten Problemen steht für mich immer an erster Stelle. Dazu gehören sowohl Einzelgespräche als auch Gespräche in der Gruppe, zum Beispiel bei einer Einsatznachsorge. Das Reden über Sorgen im Privatleben ist auch ein großer Teil unserer Arbeit. Das können eigene Krankheiten oder die von Angehörigen sein oder Krisen in der Familie wie z. B. Trennung oder Scheidung. Häufig werden Probleme am Arbeitsplatz mit Kollegen oder Vorgesetzten oder nach Einsätzen angesprochen. Für die Polizisten ist es sehr wichtig, sich jemandem anzuvertrauen, der es definitiv niemandem mehr weitersagen darf. Zusätzlich bieten wir auch Fortbildungen an, etwa zum Thema „Überbringen von Todesnachrichten“ und sind in die Ausbildung an den Hochschulen und im Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) eingebunden. Wir Polizeiseelsorger machen aber auch Moderationen, z. B. für Führungsfeedbacks oder Teamkonflikte und bieten Supervisionen an.
Wir gestalten außerdem Gottesdienste speziell für die Zielgruppe »Polizei«, etwa die Gedenkgottesdienste für verstorbene Kollegen, aber auch Trauungen, Taufen und Beerdigungen.
Streife: Wie schaffen Sie es, Vertrauen zu gewinnen?
van der Heyden: Gute Kontakte bekommen wir zum Beispiel durch Einsatzbegleitungen. Am Anfang fährt man vor allem mit den Kolleginnen und Kollegen mit, um eine „Feldkompetenz“ zu erwerben. Dadurch lernen wir, was z. B. ein Beamter einer Hundertschaft meint, wenn er über einen Fußballeinsatz spricht. Wir Seelsorger sind ja die einzigen Externen. Und dann sind wir auch noch von der Kirche – das weckt zwangsläufig Vorbehalte. Für einige ist man erst einmal nur eine merkwürdige Kirchenfigur, mit der man nicht so viel anzufangen weiß. Deshalb wollen wir vor Ort präsent sein, damit die Polizisten begreifen, dass wir Menschen sind, die zuhören können. Die Einsatzbegleitung ist eine vertrauensbildende Maßnahme für die Polizisten und mich. Man erfährt am meisten voneinander, wenn man einmal einen Nachtdienst im Streifenwagen zusammen verbracht hat.
Streife: Gibt es einen Einsatz, der Ihnen besonders nahe gegangen ist?
van der Heyden: In den ganzen Jahren sind mir viele Einsätze sehr nahe gegangen. Ich sitze da ja schließlich auch als Mensch. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir der Loveparade-Einsatz und der Germanwings-Absturz. Bei der Loveparade war ich zufällig mit der Autobahnpolizeiwache Moers im Einsatz. Was als ganz normale Einsatzbegleitung geplant war, endete im heftigsten Einsatz meines bisherigen Berufslebens. Ich sehe mich noch die Böschung an der A 59 hinunter klettern, weil mir ein eintreffender Notarzt sagte, dass dort unten im Tunnelbereich dringend Seelsorge gebraucht würde, weil jemand zu Tode gekommen sei. Weder er noch ich waren uns im Klaren darüber, was eigentlich passiert war. Das ganze Ausmaß der Katastrophe habe ich erst erkannt, als ich unten ankam. Und ich war heilfroh, als die Kollegen der Notfallseelsorge eintrafen und ich mich um die Polizisten kümmern konnte. Sie haben in dem Chaos ihre Arbeit verrichtet, obwohl ihr eigenes Leben ebenfalls bedroht war. Die Polizistinnen und Polizisten haben Menschen gerettet, Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt und das abgerufen, was sie gelernt haben. Dennoch sind Menschen zu Tode gekommen. Viele von ihnen waren nicht älter als sie selbst. Das Erschrecken über das Erlebte kommt meist erst im Nach-gang, aber an diesem Tag war es sofort da. Und dann werden tausend Fragen aufgeworfen, die sehr lange belasten können.
Nach dem Germanwings-Absturz erinnere ich mich an das Entsetzen der ermittelnden Beamten im Präsidium, als sich herausgestellt hat, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um Absicht gehandelt hat. Das werde ich nie vergessen. Die Kollegen mussten bei den Hinterbliebenen außerdem DNA-Proben zum Abgleich mit den Opfern entnehmen. Das war für viele hart.
Der Tod der Polizistin auf der A 61 im vergangenen Jahr ist mir auch sehr nahe gegangen. Dort bin ich auch immer noch mit der Dienstgruppe in Kontakt. Es berührt mich, wie feinfühlig die Kolleginnen und Kollegen miteinander und besonders auch mit Yvonnes Familie umgehen. Und auch die Unterstützung der betroffenen Kollegen und ihrer Familien durch die Behörde war beeidruckend.
Streife: Wie sorgen Sie für sich selbst?
van der Heyden: Es ist immer wichtig, dass es einem selbst gut geht, um andere Menschen zu begleiten. Ich mache natürlich regelmäßig eigene Supervisionen und tausche mich mit meinen Kollegen aus. Ich habe ein ganz tolles Team, bei dem ich weiß, dass ich jederzeit jeden von ihnen anrufen könnte, wenn ich Redebedarf habe. Privat habe ich liebe Menschen um mich herum. Ich bete. Und wenn ich etwas sehr Heftiges erlebt habe, gehe ich mit meinem Hund in den Wald und verbringe Zeit in der Natur. Ich genieße die Zeit mit meinen drei Katzen, ich koche und esse gern. Ich achte sehr darauf, ausgeschlafen zu sein. Ich mache mir bewusst, dass jeder Tag wertvoll und wichtig ist. Jeder Tag ist ein eigenes kleines Leben.
Streife: Was lieben Sie an Ihrem Beruf?
van der Heyden: Wenn ich Menschen über einen gewissen Zeitraum begleitet habe und merke, dass sich ihr Leben wieder zum Positiven wendet, ist das ein Geschenk. Diese Menschen bleiben einem auch immer irgendwie erhalten.
Streife: Wie viel Glaube muss ich denn für ein Gespräch mit Ihnen mitbringen?
van der Heyden: Man braucht nur Vertrauen, dass ich die richtige Person bin, die die Sorgen für sich behält und eine gute Gesprächspartnerin ist. Seelsorger fragen weder nach einer Kirchenzugehörigkeit noch nach dem Glauben. Ich hatte letztens ein Seminar für trauernde Polizeibeamte. Da kommt man auch auf das Thema „Glaube“ zu sprechen. Da fragt man viel-leicht auch mal nach, ob es für die Teilnehmer eine Hoffnung gibt, was nach dem Tod kommen könnte. Weil es einfach hilft, wenn man Hoffnung hat.
Unser Auftrag der Kirche lautet aber, Menschen in einem besonderen Beruf mit besonderen Belastungen zu unterstützen. Egal ob sie katholisch, evangelisch, buddhistisch, muslimisch oder anderen Glaubens sind.
Streife: Was hat sich in 13 Jahren Polizeiseelsorge verändert?
van der Heyden: Die Polizei ist im Laufe der Jahre offener für Seelsorge und Hilfsangebote geworden. Es gibt eine Untersuchung, dass 98 Prozent aller Polizisten wissen, dass es Polizeiseelsorge gibt. Das war vor 13 Jahren noch anders. Und wir arbeiten seit einigen Jahren sehr gut mit dem Team der Psychosozialen Unterstützung (PSU-Team) der Polizei zusammen. Als ich in der Polizeiseelsorge anfing, waren das damalige Betreuungsteam und die Polizeiseelsorge noch zwei ganz unterschiedliche Betreuungssysteme. Mittlerweile hat sich eine schöne Form der kollegialen Zusammenarbeit entwickelt, die besonders für die Betroffenen sinnvoll ist.
Streife: Gibt es etwas, dass Sie neu eingeführt haben?
van der Heyden: Wir haben z. B. in Düsseldorf ein Netzwerk für Fürsorge und Betreuung von Polizeibeamten initiiert, zu dem unter anderem das Sozialwerk der Polizei, der Polizeiärztliche Dienst, die Sozialen Ansprechpartner sowie die Polizeiseelsorger gehören. Dieses Netzwerk gibt es inzwischen auch auf Landesebene.
Wir haben Gedenkgottesdienste für verstorbene Kollegen eingeführt. Des Weiteren gibt es regelmäßig eine Veranstaltung für im Dienst verletzte Kollegen, die sich inzwischen auch in vielen Behörden verbreitet hat. Mein katholischer Kollege und ich sind auch ein bisschen stolz darauf, Konzepte entwickelt zu haben, die von den Behörden gut angenommen werden.
Streife: Was werden Sie in Zukunft machen?
van der Heyden: Ich bin seit Dezember die neue Landespfarrerin für Notfallseelsorge im Rheinland. Ich arbeite jetzt zum Beispiel konzeptionell daran, dass die Notfallseelsorge-Systeme gut laufen. Indirekt profitieren dann die Polizistinnen und Polizisten weiterhin von meiner Arbeit, da die Notfallseelsorger ja viel mit der Polizei zusammenarbeiten.
Bianca van der Heyden: „Ich wünsche mir für die Kolleginnen und Kollegen, dass sie trotz der oft schwierigen Rahmenbedingungen, unter denen sie ihren Dienst leisten, ihren Mut, ihren Idealismus und ihren Blick für das Gute im Menschen bewahren. Ich wünsche ihnen auch, dass sie die Anerkennung bekommen, die sie verdienen. Vor allem aber wünsche ich ihnen, dass sie an Körper und Seele unbeschadet aus dem Dienst kommen, ganz gleich, an welcher Stelle und in welcher Funktion sie diesen Dienst verrichten."
Bianca van der Heyden hat Theologie in Bonn und Hamburg studiert. Sie ist Ehe-, Erziehungs- und Lebensberaterin, Supervisorin sowie Fachberaterin Psychotraumatologie. Van der Heyden war unter anderem im Sonderdienst im Kirchenkreis Gladbach-Neuss als Polizei- und Krankenhausseelsorgerin eingesetzt, bevor sie im Juli 2009 Polizeiseelsorgerin wurde. Hier war sie für das Polizeipräsidium (PP) Düsseldorf, das PP Wuppertal, das PP Mönchengladbach sowie für die Kreispolizeibehörden Mettmann, Viersen und Neuss zuständig. Seit Dezember ist die 47-jährige Theologin die neue Landespfarrerin für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland. Dazu gehören 50 Notfallseelsorge-Systeme zwischen Emmerich und dem Saarland.
Nachfolger für Bianca van der Heyden wird der 54-jährige Pfarrer Volker Hülsdonk. Der erfahrene Seelsorger und Supervisor ist zur Zeit noch Gemeindepfarrer in Krefeld und wird im Mai 2019 seinen Dienst als Landespolizeiseelsorger für den § 4 Bereich Düsseldorf aufnehmen.